„… so wie Sterne Schwerkraft haben.“ – James Salters Roman ‚Lichtjahre‘

Es gibt Stellen in diesem Roman, da merkt man, daß er im Amerika der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre spielt, doch überwiegend wirkt er zeitlos. Der durchweg optimistische Grundton hebt ihn freilich ab von manch heutigem Roman.

Salter erzählt die Geschichte einer Ehe, einer Familie. Der Architekt Viri und seine Frau Nedra mit ihren beiden Töchtern Franca und Danny. Verschiedene Freunde treten auf, einmal, zweimal, kommen zum Essen, nehmen Drinks, verschwinden, kehren später im Buch vielleicht wieder auf, vielleicht auch nicht. Satz um Satz plätschert der Text dahin, mal manieriert, mal schlicht, immer farbig, mit Wärme, in Bewegung. Der Erzählfluß folgt einer starken Grundströmung, doch darüber kreist er umher, hält inne, nimmt Fahrt auf, ist träge – und das oft auf engstem Raum.

Armut ist kein dominantes Thema des Romans, aber auch nicht Überfluß. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit sind Möglichkeiten vorhanden, die genutzt werden. Das Leben findet gemeinsam statt, die Personen sind einander zugewandt, nehmen sich wahr und schätzen sich wert. Trotzdem kommt es zum doppelten Seitensprung, zum Arrangement.

Salter beschreibt den Fluß zu Beginn des Romans genauso anschaulich, bildmächtig und sinnlich wie den Vollzug des Geschlechtsakts. Viele Sprachbilder gefallen mir, regen die Phantasie an, sind von perlender Eleganz, treffend und einfach schön.

„Sommer ist die Mittagszeit der Familie.“ (S. 54)

„Manchmal gegen Mittag sieht er sich und ein Kind in einem Schaufenster gespiegelt, sieht sie, als würde er in den Strom des Lebens blicken, zwischen Kuchen und Flaschen von Bordeaux.“ (S. 55)

„Abende der Ehe, gemeinsame Abende, das Haus ist endlich still, die Kissen, auf denen Leute gesessen haben, sind eingedrückt, die Asche warm. Abende, die um zwei Uhr enden, draußen fällt Schnee, der letzte Gast ist gegangen. Die Teller blieben unabgewaschen stehen, das Bett war eiskalt. […] Sie lagen im Dunklen wie zwei Opfer. Sie hatten einander nichts zu geben, sie waren durch eine reine, unerklärliche Liebe gebunden.“ (S. 159)

Oft ist es ein Männertext, etwa wenn die Geliebte Viris beschrieben wird:

„Sie war intelligent, das war das Besondere an ihr. Sie konnte Dinge aufnehmen, verstehen. Unter ihrem Kleid hatte sie, wie er wußte , nichts an; […]“ (S. 61)

Ober wenn die Ehefrau eines Freunds der Familie erwähnt wird:

„Seine Frau war die einsame Stute auf der Weide. Sie wartete auf den Wahnsinn und graste ihr Leben dahin. Sie fuhr in die Stadt, zu Bloomingdale‘s, dem Gynäkologen, zu Geschäften für Künstlerbedarf. Manchmal sah sie sich einen Film im Kino an.“ (S. 73)

Empört habe ich diese Stelle angestrichen: „Vor ihr lagen Schere, hauchdünne Käseschachteln, französische Messer. Auf ihren Schultern lag Parfum.“ (S. 12) Das kam mir – auch noch gleich am Anfang des Buches – ziemlich abgeschmackt vor.

Interessant ist, wie die weibliche Hauptperson Nedra ihr Alter wahrnimmt:

„Sommer in Amagansett. Sie war vierunddreißig. Sie lag in den Dünen im trockenen Gras. […] Ihre Augen waren klar, ihr Mund farblos; sie hatte Ruhe gefunden. Sie hatte nicht länger den Wunsch, auf Partys die schönste Frau zu sein, berühmte Leute zu kennen, zu schockieren. Die Sonne wärmte ihre Beine, ihre Schultern ihr Haar. Sie hatte keiner Angst vor der Einsamkeit; sie hatte keine Angst vor dem Älterwerden.“ (S. 136)

„In sechs Jahren würde sie vierzig sein. Sie sah es aus der Ferne, wie ein Riff, das weiße Aufblitzen der Gefahr. Der Gedanke an das Alter machte ihr Angst, sie konnte es sich zu leicht vorstellen, sie suchte täglich nach den Anzeichen, zuerst in dem harten Licht am Fenster, dann, den Kopf leicht zur Seite drehend, um ihm etwas von der Strenge zu nehmen, trat sie ein wenig zurück und sagte sich, daß die Leute nicht näher herankämen.“ (S. 159)

Auf den wenigen Seiten dazwischen, wo Salter mehre kleine Episoden unterbringt, denkt Nedra kurz über die Scheidung und eine Neuordnung ihres Lebens – eine Reise nach Europa – nach.

Und dann, mit 41 Jahren:

„Sie schminkte sich vor dem Spiegel die Augen. Sie untersuchte sich, drehte den Kopf langsam von einer Seite zur anderen. Sie wollte nicht alt werden. Sie las Madame de Staël. Den Mut zu leben, wenn die besten Tage vorüber sind. Ja, sie hatte den Mut, aber sie konnte immer noch nicht ohne Verwirrung darüber nachdenken. Die Zimmer in Hotels, wenn man allein ist, wenn das Telefon schweigt und Stimmen von der Straße wie Musik herauftreiben, diese Dinge würde sie nicht auf sich nehmen – das hatte sie bereits entschieden. Sie hatte noch ihre Zähne, ihre Augen. Trinke, es ist der letzte Schluck, dachte sie.“ (S. 265)

Angepriesen als der große Gesellschaftsroman über eine Generation, die die Grenzen ihres Glücks entdeckt, war das Buch für mich eine durchaus angenehme Lektüre mit einem ästhetischen Reiz. Zu einem Vademecum oder auch nur zu einem Buch, das selbstverständlich wiedergelesen wird, dürfte ‚Lichtjahre‘ eher nicht werden.

„Unter ihrem Glanz haben Frauen eine Macht, so wie Sterne Schwerkraft haben. Auf dem Boden ihrer Tasse lag der warme, dicke Satz.“ (S. 231)

Knapp bereitet Salter den Bruch vor, eine erschrockene Ahnung Viris, ein schlichter Entschluß Nedras, beides während der endlich durchgeführten Europareise. Mehr nicht. Daheim wird die jüngere Tochter entjungfert. Es kommt – in zwei, drei Sätzen – zur Scheidung, Nedra reist erneut nach Europa. Dort trifft sie einen Mann.

„Seine Hände waren Pranken. Er war der letzte der Bären, so schien es zumindest. Wein, Geschichten, Freunde; er war ein Mann, der voll bekleidet im Strom der Tage lag.“ (S. 263)

Und das Leben geht weiter. Kinder werden geboren, die Alten sterben. Blätter fallen und die Sonne geht auf.

James Salter, Lichtjahre. Roman, 1975, dt. 1998. Tb., 4. Aufl. 2013, 393 Seiten.

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Eine Antwort zu „… so wie Sterne Schwerkraft haben.“ – James Salters Roman ‚Lichtjahre‘

  1. zeilentiger schreibt:

    Das Thema hätte mich nicht interessiert, aber die Sprache, für die du Beispiele bringst, hat mich sofort.

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